Das Ende

Das Ende begann am sechsten Tag. Gott hatte gut geschlafen und nach einem leichten Frühstück hatte er Großes vor. Also setzte er sich an seine Werkbank, nahm Lupe und Pinzette und reihte sinnreich Bosonen und Leptonen, Gluonen und Quarks aneinander, verknotete sie mit Strings und Schleifenquanten, feilte hier und da an einem Atomkern, verschränkte Elektronen und Protonen und erhielt schließlich eine einzige, winzige Zelle. Als er sah, dass es gut war, nahm er die Zelle und setzte sie auf einer, bis dahin unbelebten Welt in eine Wasserlache. Später am Tag töpferte Gott noch ein wenig. Doch wie er es anstellte und wie sehr er sich auch mühte – es gelangen ihm, statt eines neuen Aschenbechers, nur zwei knubbelige Tonfigürchen mit allerlei lustigen Fortsätzen. Er besah die beiden und beschloss, sie so zu lassen. Nachdem er ihnen (aufgrund eines heftigen Hustenanfalls) versehentlich Leben eingehaucht hatte, trug er sie in seinen Experimentiergarten auf seiner Experimentierwelt, nicht ohne sie streng zu ermahnen, keinen Unfug anzurichten. Dann legte Gott sich zu einem Mittagschläfchen nieder.

Natürlich richteten die Wichte, die sich bald Menschen nannten, allerlei Unfug und auch Schaden an. Sie verwüsteten den Garten, fraßen jegliches Getier auf, was dort herumkreuchte und -fleuchte, pflückten alles Obst und stibitzten sogar des Herrn persönliche Äpfel, als er einmal nicht hinsah. Also flogen sie aus dem Garten, aber anstatt zum Staub zurückzukehren, aus dem sie geformt waren, begannen sie, sich zu vermehren. Sie wurden immer mehr, wenn ihnen langweilig war (wie meistens) schlugen sich gegenseitig die Köpfe ein und verbreiteten sich wie Myzel über Gottes gesamte Versuchswelt. Dieser gab sich alle Mühe, der Plage Herr zu werden, flutete den ganzen Laden, ließ den einen oder anderen Asteroiden einschlagen, impfte die Bande mit tödlichen Seuchen, setzte Unwetter, Heuschrecken, Missernten, Eiszeiten, Hitzewellen, Erdbeben, Tsunamis und allerlei andere Naturkatastrophen ein, doch die Gnome erwiesen sich als überaus erfindungsreich und krallten sich überdies mit übermenschlicher Sturheit an jedem Fleckchen Erde fest. Kurzum – wie es Gott auch anstellte, er schaffte es nicht, sie auszurotten. Schließlich wandte er sich von der Erde ab, denn er hatte noch mehr zu tun. An dieser Stelle soll gesagt sein, dass die Menschen zwar überaus lästig waren und Gott gehörig auf die Nerven gingen, aber am Ende waren sie nicht schuld.

Am Morgen des Donnerstags erwachte Gregor S. aus unruhigen Träumen, schob sich schlaftrunken und mit steifen Gelenken, gerade als trüge er einen Chitinpanzer, zur Toilette und riss, während er sein Geschäft verrichtete, am Kalender das Blatt für den Mittwoch ab. Er sah auf den Kalender, dann auf das abgerissene Blatt, dann noch einmal auf den Kalender. Da stand Freitag. Wo war der Donnerstag geblieben? Während er seinen Morgenkaffee aufsetzte, schaltete er das Radio an und hörte in den Nachrichten, dass es in der Tat schon Freitag wäre und die Welt wegen des fehlenden Tages in Aufruhr sei. Die Menschen hatten sich am Mittwochabend, dem Sonnenuntergang folgend, ins Bett gelegt und staunten nicht schlecht, dass sie am Freitagmorgen aufwachten. Der Donnerstag war ausgefallen, weg, hatte niemals stattgefunden. Nicht einmal im Kalender stand er, wie auch schon Herr S. bemerkt hatte. Im Hundertjährigen nicht, in den Tageskalendern fehlte das Blatt und auch der Jungbauernkalender (prallbusige Bäuerin vor neuestem Melkautomaten) hatte einen Tag weniger. Die Wirtschaft ärgerte sich, dass ein Arbeitstag verloren ging, was die Werktätigen wiederum freute. Ursachen wurden gesucht und Schuldige waren schnell ausgemacht: Der Kanzler, der wegmusste, die Reptiloiden, die Illuminaten, die Kommunisten, die Gewerkschaften und Geheimdienste. Für die Linken waren die Rechten schuld, für die Rechten die Juden, für die Juden die Muslime, für die Muslime die Christen, für die Christen alle anderen Religionen, für alle anderen Religionen die Atheisten.

Das Ministerium für vage Vermutungen wurde bemüht, doch das brachte nichts weiter als vage Vermutungen zustande. Aber weil es am Abend des Freitags ein bedeutendes Fußballmatch gab, glätteten sich die Wogen wieder und das Leben ging, als wäre nichts geschehen, seinen gewohnten Gang weiter. Es blieb nicht so. Als Nächstes fiel der Sonntag aus, dann verschwanden der Dienstag und der Mittwoch, danach das ganze Wochenende. Die Welt geriet endgültig aus den Fugen, Regierungen traten zurück, Geschäfte wurden geplündert, Missionare aufgefressen, die Märkte geschlossen, die Russen zündeten eine Atombombe, weil das immer hilft, die Chinesen wollten am folgenden Tag irgendwo einmarschieren, aber der Tag fiel, ebenso wie die gesamte folgende Woche aus. Nur an einem alten Mütterchen in ihrer Berghütte ging der Aufruhr spurlos vorüber, weil sie in ihrer Zerstreutheit täglich fünf bis acht Kalenderblätter mit ihren gichtsteifen Fingern abriss und im Juni schon den dritten Kalender im Herrgottswinkel ihrer kargen Stube aufgehängt hatte. Als alles nichts mehr half, besannen sich die Menschen auf Gott und riefen ihn mit aller Inbrunst um Hilfe, doch der Herr hatte andere Probleme.

Auch Gott hatte bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Es kamen immer mehr Tage abhanden. Nicht, dass dieser Umstand für das Modell der Ewigkeit eine Rolle gespielt hätte, aber nachsehen musste man schon einmal. Also warf der Herr sein allsehendes Auge durch das Universum – zuerst auf die Welt der Menschen, denn denen war bekanntlich jede Teufelei zuzutrauen, aber sie waren unschuldig. Danach waren die ganzen anderen Welten dran, doch alles war in schönster Ordnung. Was Gott bei all dem Durcheinander nicht bemerkte, war ein kleiner, unauffälliger Planet, der nicht dort war, wo er sein sollte. Er hatte sich aus der Umlaufbahn um seine Sonne entfernt, war verschwunden und der Allwissende hatte es übersehen.

Es war die Welt, auf die Gott einst eine einzelne Zelle gesetzt hatte. Diese hatte sich, kaum dass sie es sich in ihrer Pfütze bequem gemacht und ein paar Geiseltierchen absorbiert hatte, geteilt. Nun hüpften schon zwei Zellen durch die Lache, die sich wieder und wieder teilten. Einige Tage später wurde die Pfütze zu klein und heraus kroch ein gräulich glänzender Schleim. Nach einer Woche bedeckte er schon einen Quadratmeter und wuchs weiter, weiter und immer weiter, bis er den ganzen Planeten bedeckte. Und je mehr der Schleim wuchs, desto schlauer wurde er auch. Doch irgendwann wurde es kritisch. Der Schleim stand schon einen Kilometer hoch und war so schwer geworden, dass die Welt aus ihrem Orbit zu springen drohte. Also begann er nachzudenken und kam zum Resultat, dass eine weitere Heimat hermusste. Wie aber sollte er da hinkommen, denn schließlich war er nur Schleim – eine sülzartige Masse ohne Augen, ohne Arme, dafür aber intelligent. Als das Gallert lange genug überlegt und dabei gelernt hatte, die Gravitation benachbarter Sonnensysteme zu erspüren, fand es auch die Lösung für sein Problem.

Der Schleim begann langsam und träge, sich in Richtung Äquator zu verlagern. Dadurch wurde die Rotations- und auch die Umlaufgeschwindigeit um die Sonne erhöht. Durch weitere geschickte Umschichtungen seiner Masse beschleunigte der Blubber seine Welt schließlich auf Lichtgeschwindigkeit. Das war der Moment, in denen sich der gesamte Schleim am Pol versammelte, der Planet aus seiner Umlaufbahn sprang und lichtschnell zur nächsten Sonne hüpfte, um sich von ihr einfangen zu lassen. Gleichzeitig war das auch der Moment, an dem der Donnerstag verschwand. Und nicht nur das – auch ein kleines, abgelegenes Eckchen des Universums löste sich durch die verlorengegangene Zeit unbemerkt auf. Als der Schleim feststellte, dass es in dem System, in dem er angelangt war, keine habitable Welt gab, setzte er sogleich zum nächsten Sprung an. Zack – war der Sonntag weg und vom Universum noch ein Stückchen fortradiert. So ging es Sprung für Sprung. Die Tage verschwanden, ebenso ganze Galaxien und Gott wurde angesichts seiner dahinschwindenden Schöpfung immer nervöser. Irgendwann war es dann soweit, dass der schleimbewohnte Planet um eine letzte verbliebene Sonne der einst gewaltigen Andromedagalaxie kreiste. Das ganze Universum war leer und nur noch eine kleine gelbe Sonne stand da, wo sich einst ein äußerer Arm der Milchstraße befand. Der Glibber bemerkte den dritten Planeten des Systems, eine kleine blaue Kugel, bewohnt von etlichen Milliarden Wesen, deren Kalender auf ein einziges Blatt, einen letzten Eintrag zusammengeschrumpft waren, beschleunigte und sprang. Dann war alles vorbei. Es gab keine Schleimwelt mehr, keine gelbe Sonne, keinen blauen Planeten, keine Menschen, keinen Kalender, kein Universum, keinen Gott und noch nicht einmal das Nichts war übriggeblieben. Das war das Ende. Obwohl – wie kann es ein Ende geben, wenn niemand mehr da ist, der vom Anfang hätte berichten können?