Leseprobe – El Pollo


El Pollo war eine Gestalt von sagenhaftem Ruf. Wenn man den aberwitzigen Erzählungen und Spekulationen, die rund um die Sierra Chica kursierten, Glauben schenken durfte, war El Pollo mindestens doppelt so groß wie ein normaler Hahn. Er hatte pechschwarzes, in der Sonne blaugrün glänzendes Gefieder. Ein kolossaler feuerroter Kamm mit einem Durchschussloch zierte sein mächtiges Haupt. El Pollo hatte stechend schwarze Augen und den spitzesten Schnabel ringsum. Er war stets einen schwarzen Poncho gekleidet und hatte einen gewaltigen, mit Silberfäden durchwirkten Sombrero der gleichen Farbe auf dem Kopf. Zudem sah man ihn nie ohne seine Gesichtsmaske. Um die Hüfte trug er einen breiten Patronengurt mit einer silberglänzenden, riesigen Gürtelschnalle, in die sein Porträt ziseliert war. Links und rechts hingen in ledernen, mit goldenen Nieten verzierten Holstern herrlich gearbeitete Bohnenrevolver, die stets gut geölt und schussbereit waren. Lederne Reitstiefel mit polierten Sporen komplettierten das Bild, dass sich dem Betrachter von El Pollo bot.

Nicht minder spektakulär war sein Reittier. Es handelte sich dabei um einen nachtschwarzen, groß gewachsenen Klapperhasen von edlem Blute, der über die längsten und schärfsten Ohren der ganzen Sierra verfügte. Das Tier konnte so unglaublich schnell hoppeln, dass El Pollo theoretisch in der Lage war, auf der Flucht jeden Verfolger abzuhängen, was jedoch nie geschah, da er nicht floh, sondern sich allen Gefechten stellte. Der Hase hatte strahlend weiße, hervorragend gepflegte Zähne, mit denen er rund um die Uhr klapperte. Sattel samt Taschen und Zaumzeug bestanden aus feinstem Leder, in welches die Geschichte des Heldenmutes von El Pollo in aufwändigen Bildern geprägt war.

Dass El Pollo unbestätigten Gerüchten zufolge neben den vorgenannten Eigenschaften angeblich auch noch über unermessliche Reichtümer jenseits aller Vorstellungskraft verfügte, seit er auf verschlungenen Pfaden an eine Karte gelangt war, die den Weg zu einem vergessenen spanischen Münzschatz mitten in der Sierra Chica wies, soll in diesem Zusammenhang nur in einem Nebensatz Erwähnung finden.

Es rankten sich auch unzählige Mythen und Legenden um seine glorreichen Taten. So zog er zum Beispiel so schnell, dass er aus dem einen Revolver eine Bohne abfeuern und diese mit der Bohne des anderen Revolvers aus der Luft abschießen konnte. Er hatte eine große Anzahl gefährlicher Ganoven und durchgedrehter Pistoleros zur Strecke gebracht und den Schwingen des Gesetzes überantwortet. So hatte er einmal eine Bande Hühnerhabichte, bekannt und gefürchtet unter dem Namen Los Azores, mit bloßen Flügeln erledigt, als sie über ein friedliches Dorf hergefallen waren, um es auszuplündern. El Pollo saß gerade in der örtlichen Taverne und wollte dort in aller Gemütsruhe den berühmten, landauf landab gepriesenen lokalen Tequila verkosten, als einer der Los Azores herein gestiefelt kam und mit einem gezielten Schuss aus seinem Bohnenrevolver den irdenen Trinkbecher von El Pollo in dem Moment zerschmetterte, als er gerade zum Trinken ansetzen wollte. Daraufhin wurde El Pollo wirklich ungemütlich. Er ärgerte sich dabei weniger über den zerstörten Becher, sondern viel mehr darüber, dass der kostbare Tequila seinen frisch gewaschenen und sorgsam gebügelten Poncho verkleckerte. Um es kurz zu machen: Die Habichte waren nach El Pollos Intervention so demoralisiert, dass sie auf der Stelle beschlossen, in ein Kloster einzutreten und fortan nur noch gute und gemeinnützige Taten zu vollbringen.

Ein anderes mal geriet El Pollo an einen wirklich üblen Gegner: Er ritt gerade gemütlich durch einen felsigen Ausläufer der Sierra Chica, als nicht allzu weit entfernt der ploppende Knall eines Bohnenrevolvers zu hören war. Die Bohne durchschlug El Pollos Sombrero und seinen Kamm und blieb in der Krempe seines Hutes liegen. Der Held sprang reaktionsschnell aus dem Sattel seines Klapperhasen und suchte hinter einem Felsen Deckung. Dort untersuchte er das Projektil, das ihn getroffen hatte. Es war eine gefleckte Feuerbohne, in die zwei Teufelshörner eingeritzt waren. Das Markenzeichen von El Diablo, dem übelsten und hinterlistigsten Desperado in der gesamten Sierra Chica.  El Pollo überlegte nicht lange, dann rief er in die Richtung, in der er seinen Widersacher vermutete:

Buenos Dias, El Diablo. War das alles? Schick‘ mir doch noch ein paar Bohnen hinüber, damit ich mir zum Abendessen ein richtig scharfes Chili kochen kann.“

Nach einem kurzen Moment kam die Antwort:

„El Pollo, alter Sportsfreund. Als ob du ein brauchbares Chili kochen könntest. Ich wette mit dir, dass ich das schärfste Chili der Welt zubereite.“

„Mach dich nicht lächerlich, Diablo. Komm‘ nur rüber. Dein Chili wird dir wie ein laues Lüftchen vorkommen, wenn du meines erst gekostet hast. Ich rühre dir ein Chili zusammen, dass dir dein Hühnerhirn in kleinen Stückchen aus dem Schädel bläst.“

„Das will ich sehen“, ließ sich El Diablo vernehmen.

„Wie wäre es mit einem Wettkochen. Jeder von uns kocht sein Chili und lässt den Anderen kosten. Gewonnen hat derjenige, dessen Chili schärfer ist. Abgemacht?“

„Abgemacht!“

Vorsichtig erhoben sich die beiden Streithähne aus ihrer Deckung und gingen aufeinander zu. Schnell waren die Regularien des Kochwettbewerbes vereinbart und schon bald brannten zwei kleine Lagerfeuer, auf denen die Gegner in jeweils einem Topf ihr Chili zubereiteten. Einen kurzen Moment zweifelte El Pollo daran, ob er den Wettstreit gewinnen könnte, denn El Diablo entrollte eine Decke, die eine Kollektion nie zuvor gesehener Chilischoten von so exorbitanter Schärfe enthielt, dass man schon allein von deren Anblick unkontrolliert zu schwitzen begann. Doch El Pollo schwor auf seine geheime Zutat. Vor Jahren hatte ihm ein Indiohuhn, dass er etwas besser kannte und dem er sehr verbunden war, auf dem Sterbebett von der mexikanischen Gewürzspinne erzählt, einem geheimnisvollen und höchst seltenen Tier, dass getrocknet und zerrieben so scharf war, dass man davon nur winzigste Mengen, gerade ein paar Körnlein in das Chili streuen durfte. Im Laufe der Zeit hatte sich El Pollo an das Gewürz gewöhnt und konnte, so abgehärtet, immer größere Mengen davon vertragen.

El Diablo beobachtete amüsiert El Pollos Bemühungen, ein ordentliches Chili zusammenzurühren. Normale Schoten, wie man sie auf jedem Markt rund um die Sierra Chica erstehen konnte, herkömmliche Bohnen, was daran sollte scharf sein? Doch in einem Moment, als Diablo gerade nicht hinsah war, gab El Pollo eine ordentliche Menge von dem Gewürzspinnenpulver, dass er stets in einem kleinen Beutel an seinem Gürtel trug, in sein Chili, rührte gut um und kostete. Perfekt. Der Eintopf war fertig. Auch das Gericht des Gegners brodelte in seinem Topf vor sich hin und verbreitete ein köstliches Aroma. Nun ging es ans Kosten. El Pollo machte den Anfang: Er schöpfte sich einen ordentlichen Schlag von El Diablos Gebräu in seinen Napf und begann zu essen. Hm, gar nicht mal so schlecht. Von angenehm vollem Geschmack, mit ein bisschen Pfiff und einer süßlich fruchtigen Note, aber insgesamt von mangelnder Schärfe. Natürlich war das Chili, dass El Diablo gekocht hatte, in Wirklichkeit höllisch scharf. So scharf, dass man für dessen Zubereitung normalerweise einen Waffenschein gebraucht hätte, doch dank seiner Gewürzspinnenkur war El Pollo Pikanteres gewöhnt. Um den Gegner nicht bloß zu stellen, tat er aber zumindest so, als wäre Diablos Chili ganz mächtig scharf und lobte es gebührend.

Nun war El Diablo an der Reihe. Siegessicher steckte er seinen Holzlöffel, gefüllt mit einem ordentlichen Schlag von El Pollos Spezialchili in den Schnabel und schluckte. In derselben Sekunde schoss unvermittelt ein wahrer Sturzbach von Tränen aus El Diablos Augen, während kochendes Blut in seinen kapitalen Kamm schoss. Er japste verzweifelt nach Luft und versuchte heiser, um Hilfe zu gackern. Der Schweiß lief ihm in Strömen aus den Federn, die an seiner Halskrause büschelweise auszufallen begannen. Er sprang auf und hüpfte wie ein Wilder um das Camp, während er mit heraushängender Zunge beängstigend hyperventilierte. Er kam flatternd auf El Pollo zu und konnte gerade noch ein feuriges, oder besser gesagt verbranntes „Du…“ keuchen, ehe er das Bewusstsein verlor. Als El Diablo Stunden später wieder zu sich kam, musste er neidlos anerkennen, dass El Pollo der Sieger war. Die beiden wurden gute Freunde, doch ein würziges, von El Pollo gekochtes Spinnenchili rührte El Diablo nie wieder an.

Über dies und vieles mehr machte sich der tapfere Sancho Gedanken, während er einsam in der Abgeschiedenheit der Sierra Chica an seinem kleinen Lagerfeuer kauerte und, begleitet vom Zirpen der Grillen, den Sternenhimmel betrachtete. Sancho war schon vor dem Morgengrauen aufgebrochen, nicht ohne eine ganze Litanei guter Ratschläge von Padre Léon zu bekommen. Ehe er los ritt, steckte der Priester Sancho noch heimlich einen abgegriffenen Peso zu (nicht ohne zu erwähnen, dass Sancho sich von dem Geld keinen Alkohol kaufen dürfe, es sei denn, er hätte vor, für alle Zeiten in der Hühnerhölle am Grillrost zu schmoren), segnete ihn dann im Namen des großen Hühnergottes und wünschte ihm eine erfolgreiche Reise und eine glückliche Heimkehr.

Doch würde das Abenteuer gut ausgehen? Würde er El Pollo finden? Und falls ja, wäre El Pollo überhaupt bereit, bei der Rettung Carrizos vor den Four Roosters zu helfen? Sancho wusste, dass er nicht versagen durfte. In eine ungewisse Zukunft sehend, setzte er sich mit aufgeplustertem Gefieder und einem unguten Gefühl auf seine mitgebrachte Reisehühnerstange und ließ sich von den Geräuschen seines Reittiers in den Schlaf klappern.